Einzelsupervision in der Praxis

Dr. phil. Dipl.-Psych. Sylvia Siegel (2006)

Der folgende Artikel veranschaulicht anhand eines Fallbeispiels einer Einzelsupervision das supervisorische Vorgehen und reflektiert es mittels Leitfragen.

I. Vorabinformationen zur Supervisandin und zum bisherigen Verlauf der Einzelsupervision

Ein Teil der Supervisionsaufgabe bestand darin, die Trennung zwischen Therapie und Supervision zu klären. Da die persönliche Biographie immer wieder eine Rolle im Verständnis zur aktuellen Problematik spielte, werde ich hier vorab neben berufsbiographischen auch persönliche Hintergrundsinformationen liefern.

I.1 Zu Person und Berufsbiographie der Supervisandin

Frau Tanner, ca. Mitte 30, wurde in den neuen Bundesländern geboren. Sie ist eine eher kleine Frau, meist pfiffig angezogen, spricht manchmal im Berliner Dialekt, wirkt etwas zurückhaltend und macht einen herzlichen Eindruck. Sie denkt viel nach und scheint dabei manchmal ihre Gefühle zu übersehen.

In der familiären Konstellation spielte die Beziehung zur Mutter eine tragende Rolle. Die Supervisandin hatte nur ein sehr kleines eigenes Zimmer und hielt sich daher oft im Wohnzimmer auf, in dem auch die Mutter anwesend war. Die Mutter war herzkrank, riss sich aber nach außen sehr zusammen, so dass man es ihr nichts anmerkte, es vielleicht sogar vergessen konnte. Die Supervisandin schildert sie als sehr ungeduldig und als übergriffig, daher könne sie „es auch heute nicht ab, wenn Menschen ihr zu nahe kommen. Sie habe auch Probleme, sich wirklich abzugrenzen“ (Stunde 2). Die Beziehung der Mutter zur Tochter war u. a. durch die Ambivalenz zwischen Fördern und Überfordern charakterisiert. Die Mutter unterstützte und förderte die Tochter, wenn dieser aber im ersten Anlauf etwas nicht gelang, wertete die Mutter dies als Unfähigkeit der Tochter und in diesem Bereich fanden dann weder weitere Förderung noch andere Lernprozesse statt. Ebenfalls zentrale Sätze aus ihrer Kindheit waren: „Wer die Füße unter unseren Tisch stellt, der muss …. (gehorchen). Wenn Du nicht tust, was ich will, dann bringst Du mich ins Grab“ (Stunde 5). Da die Mutter ihre wichtigste Bezugsperson war, lösten diese Sätze entsprechende existenzielle Verunsicherungen aus.

Frau Tanner hat 1986 in der DDR ihr Abitur gemacht, es folgte ein Jahr Vorpraktikum bei der Sparkasse und ein 4-jähriges Studium der Finanzwirtschaft, das sie als Diplom-Ökonomin abschloss. In dieser Zeit absolvierte sie 2 Praktika bei Versicherungen. Im Anschluss an das Studium arbeite sie bei einer Krankenversicherung in einer mittelgroßen Stadt im ehemaligen DDR-Randgebiet. Diese Arbeit mochte sie sehr, wünschte sich aber, in die Stadt, in der sie vorher gelebt hatte, zurückzukehren, da sie dort ihr soziales Beziehungsnetz hatte. Es folgten eineinhalb Jahre Versicherungstätigkeit in der Kraftfahrzeugbranche in der gewünschten Stadt, was sie aber nicht befriedigte. 1993 begann sie dann das Studium der Sozialpädagogik, das sie aufgrund von Nebentätigkeiten (u. a. Gerontologie für ein Jahr) zur Existenzsicherung erst nach sechs Jahren abschloss. Als diplomierte Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin fand sie die Anstellung bei ihrem jetzigen Träger im betreuten Wohnen, bei dem sie seit dreieinhalb Jahren tätig ist. Sie hat die verschiedenen Berufe ergriffen, „weil ihr nichts Bessres einfiel“ oder weil ihr eine Bekannte von dem Sozialpädagogikstudium vorgeschwärmt hatte (Stunde 6); sie informierte sich aber vorab nicht über das jeweilige Berufsbild. Aktuelle Überlegungen in Bezug auf die berufliche Perspektive gehen in Richtung Konzertagentur.

I.2 Klientel und konkretes Tätigkeitsfeld der Supervisandin

Frau Tanner betreut einige KlientInnen im betreuten Einzelwohnen, die u. a. multiple Diagnosen haben. Die Arbeitsaufgaben sind u.a.: praktische Dinge mit den KlientInnen zu erledigen, sofern sie dieses nicht alleine können, Begleitung zu Ämtern und Ärzten, Übernahme derjenigen Aufgaben des Lebenskontextes, die die KlientInnen nicht selbst ausführen können, Gespräche zur Entlastung. Es können dabei auch spezielle Aufgaben gestellt sein, wie z.B. der Umzug einer Klientin aus der elterlichen Wohnung in eine eigene sowie die Begleitung des entsprechenden Trennungs- und Ablöseprozesses von den Eltern und die Unterstützung bei dem Schritt zum selbstständigen Wohnen. Regelmäßig werden auch Reisen und Ausflüge mit den KlientInnen unternommen. Die meisten KlientInnen werden langfristig in der Einzelfallhilfe betreut.

Frau Tanner arbeitet schwerpunktmäßig mit einem Kollegen X in einem sechsköpfigen Team. Es werden auch Veranstaltungen in den Räumen des Trägers (Kochen, Basteln etc.) angeboten, die Frau Tanner alleine oder mit jeweils einem anderen Kollegen anleitet. Neben den Betreuungsaufgaben müssen auch administrative (Berichte, Abrechnungen etc.) erledigt werden. Die Arbeit ist im Allgemeinen dadurch charakterisiert, dass ein Teil im Team und in den Räumen des Trägers stattfindet, ein anderer Teil außerhalb, sei es in der Wohnung der KlientInnen bzw. an anderen Orten.

I.3 Institutioneller Kontext

Der Träger bietet betreutes Einzelwohnen und therapeutische Wohngemeinschaften in einer deutschen Großstadt an. In welche übergeordneten Kontexte (Institutionen) er eingeschlossen ist, vermag ich den Informationen der Supervisandin nicht zu entnehmen. Sie legte mir im Organigramm nur die für ihre Arbeit relevanten Bereiche dar. (Für die folgende Schilderung ist es wichtig zu wissen, dass eines der Anliegen der Supervisandin die Klärung der Problemlagen mit ihrem Kollegen X war.)

Es gibt einen Vorstand, dem drei Personen angehören, u. a. die fachliche Leitung der darunter liegenden Hierarchieebene. Diese drei Personen haben vertraute Beziehungen zu ihrem Kollegen X. Auf der darunter liegenden Ebene gibt es die fachliche und die kaufmännische Leitung. Die Erstere ist eine sehr gute langjährige Freundin des Kollegen X. Zu Beginn der Arbeitstätigkeit der Supervisandin beim Träger arbeitete sie noch im Team mit ihr und dem Kollegen X, später ist sie Leiterin geworden. Auf der untersten Ebene gibt es das betreute Einzelwohnen und zwei therapeutische Wohngemeinschaften, die jeweils zwei Mitarbeiter haben. Alle sechs Mitarbeiter bilden ein Team. Während Frau Tanner sich zu Beginn der Supervision noch mit dem Kollegen X einen kleinen Arbeitsraum teilte, arbeiten nun alle sechs Mitarbeiter in einem großen Raum. Die Trennung von Arbeit und Privatem ist beim Träger nicht immer gut zu erkennen. Zum einen spricht man sich allgemein mit Du an, zum anderen gibt es auch die informellen Regeln, das eine oder andere in der Freizeit mit zu erledigen.

Der Kollege X gehört neben der fachlichen Leitung zu den Personen, die den Trägerbereich mit aufgebaut haben. Beide arbeiten bereits seit zehn Jahren zusammen, haben sich aber auf den hierarchischen Ebenen unterschiedlich entwickelt. Während die Frau aufgestiegen ist, ist der Kollege X auf der gleichen Ebene geblieben. Innerlich hat die Supervisandin ihn oft als den „heimlichen Chef“ bezeichnet und sie vermutet, dass er sich nicht traut, in den Vorstand zu gehen.

I.4 Anlass für die Einzelsupervision, Kontrakt und Setting

Frau Tanner war Teilnehmerin eines meiner Fortbildungsseminare für „Beziehungsdynamik in längerfristigen Beratungskontexten“. Dort sei ihr bewusst geworden, dass in ihrer Kommunikation mit ihrem Kollegen X einiges nicht stimmig sei und dass es für sie Zeit geworden sei, sich Hilfe zu suchen. Sie fühle sich von ihrem Kollegen X gemobbt. Sie wolle dies nicht länger ohnmächtig hinnehmen, sondern nach Wegen der Konfliktlösung suchen. Es war ihr wichtig, dass die Supervision nicht im institutionellen Kontext stattfinden solle. Dort hatte sie zweimal versucht, mit dem Kollegen X die Problematik zu klären, war aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Frau Tanner schilderte ihre berufliche Problematik als sehr dringend, sie spiele mit dem Gedanken, die Tätigkeit aufzugeben bzw. aufgeben zu müssen. Die Einzelsupervision sollte ihr auch dazu verhelfen, dass sie nicht einfach ‚gegangen’ wird, sondern sich selbst entscheidet, welchen beruflichen Weg sie weiterverfolgen will. Demzufolge waren folgende Themen im Kontrakt: Konflikt mit dem Kollegen X (Strategien, Konfliktlösungsmöglichkeiten entwickeln) und die Reflektion der beruflichen Perspektive. Es waren zunächst 90-min-Sitzungen geplant, auf Wunsch der Supervisandin wurden jedoch ab dem 3. Treffen 60-minütige Sitzungen durchgeführt.

I.5 Bisheriger Verlauf der Einzelsupervision

Schon zu Beginn des Sondierungsgespräches waren der Handlungsbedarf und die aktuelle Krise sehr eindrücklich. Die Supervisandin schilderte die Problemlage folgendermaßen: Sie und der Kollege X befinden sich in einer kampfähnlichen Situation, die schon über längere Zeit andauert. Er stellt sie mittlerweile vor den Klienten bloß, beide sprechen oftmals auf eine laute und herbe Art und Weise miteinander, die ihr nicht mehr gefällt. Während sie sich am Anfang ihrer Tätigkeit an ihm orientierte und das Arbeitstempo und die Arbeitsfülle, die er vorgab, unreflektiert befolgte, möchte sie jetzt eigene Akzente setzen und nicht mehr über alle Maßen arbeiten. Sie wünscht sich Distanz zur Arbeit. Ein häufiges Streitthema ist, dass er ihr sagt, sie sei nicht schnell genug, und sich anderweitig in ihre Kompetenzbereiche einmischt.

In den ersten Sitzungen zeigte sich, dass Frau Tanner beim Beruflichen anfing, um dann ähnliche Strukturen der Grenzüberscheitungen aus dem privaten Bereich zu erzählen. Meist vermischte sie Berufliches und Privates. Außerdem gab es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Schwierigkeiten mit Lebenspartnern und Schwierigkeiten bei der Arbeit, der sich meist in Zweifel am Selbstwertgefühl niederschlug. Sie hatte zwar immer mal wieder an Therapie gedacht, dies aber bis jetzt immer wieder verworfen, weil sie entweder mit dem Therapeuten nicht zufrieden war bzw. weil sie nicht wie ihre Klienten sein wollte. Die Trennung zwischen privaten und beruflichen Bereichen sowie die Trennung zwischen Therapie und Einzelsupervision waren wichtige Themenpunkte, die wir in den ersten neun Sitzungen klärten. Es ist auffallend, dass nachdem diese Klärung ausgesprochen war und der eventuelle heimliche Ausweg, eine Therapie zu machen, diese aber Supervision zu nennen, nicht mehr möglich war, eine längere Pause einsetzte. Begründet war diese Unterbrechung sichtbar durch die Umstände von Krankheit und starker Arbeitsbelastung (Urlaubsvertretung) sowie durch die telefonische Erklärung der Supervisandin: „Ich stelle Privates momentan hinten an“.

Schwerpunkt in den ersten Sitzungen war der Interaktionsstil mit dem Kollegen X und der biographische Rückbezug zu Interaktionsstilen mit der Mutter (s. Pkt. I.1). Sie verglich den sehr emotionalen Beziehungsstil zwischen sich und dem Kollegen mit einem alten Ehepaar Loriotscher Prägung, das verquer miteinander kommuniziert. Die Ebenen des Machtkampfes und der Sandkastenspiele von Kindern konnten herausgearbeitet werden. Problematisch blieb für sie aber für eine lange Zeit, wie sie die Problematik bzw. ihre Änderungswünsche mit dem Kollegen besprechen könnte. „Wenn ich der Leiterin alles erzähle, dann wird sie entsetzt sein“ (Stunde 1), war ihre Vermutung. Da sie mit dem Kollegen bisher wenig konkret besprochen hatte, vermutete sie auch, dass „er aus allen Wolken fallen würde“ (Stunde 1), wenn er wüsste, wie sie die Arbeitsbeziehung erlebt. Für sich erkannte sie, dass sie wenig rückmeldet, wie es ihr gerade geht. Wenn sie erschöpft sei, dann signalisiere sie vielmehr, dass es ihr gut gehe, sie durchaus noch belastbarer sei. Als wir ihre berufliche und auch private Tagesstruktur untersuchten, stellten wir fest, dass sie sich auch keine Pause gönnt, diese kaum einplant und die meiste Zeit mit voller Kraft arbeitet. Die Angst, dass sie nicht genügend belastbar sei, der Vergleich mit anderen, die doch auch soviel schaffen würden, und fehlende bewusste Kriterien, wann die Arbeit als gut gemacht gilt, konnten als Motivatoren für diese Überlastung ihrerseits ausgemacht werden. Auch hier zog die Supervisandin immer wieder Parallelen zu Interaktionsstilen mit ihrer Mutter. Zum Stundenende fand sie meist Sätze, die in der Stunde sichtbar gewordene Kindheitsängste, die sich in die aktuelle Arbeit hineingeschlichen hatten, beruhigten bzw. es ihr ermöglichten, mit der Hier-und-Jetzt-Realität umzugehen. Sich so sehr zu belasten stand in Zusammenhang mit dem Nicht-der-Mutter-Genügen und schlug sich in überhöhter Angst um Arbeitsplatzverlust nieder. „Wenn ich gekündigt werde, finde ich woanders Arbeit“, war ihr Abschluss in der diese Thematik bearbeitenden Stunde (5). Die Themenreihe ‚Was kann ich, was kann ich nicht’ schloss sich daran an. Dabei zeigte sich, dass sie gut schnelle Kontakte schließen kann, sich auf Neues gut und gerne einstellt. Es fällt ihr aber schwer, Kompromisse auszuhandeln; hierzu assoziiert sie die Gefahr der Selbstaufgabe, sie erscheint wenig teamgeeignet und wünscht sich Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit in der Arbeit. Ihren Arbeitsstil verglichen wir mit dem eines Sprinters.

Bei den letzten drei Treffen ging es zum einen um die Trennung von Supervision und Therapie (s. S. 4) und zum anderen um Aggression. In einer vorangegangen Stunde hatte sie geäußert, dass ‚mehr Biss haben’ für sie durchaus ein Thema sein könne. Manchmal hatte sie spitze, indirekt aggressive Bemerkungen über den Kollegen geäußert, die sie mimisch mit einem Lächeln begleitet hatte. Konkret wurde das Thema in einer Sitzung angegangen, in der sie über ihren Umgang mit Aggressionen von Klienten sprach und wir an einem Fallbeispiel arbeiteten, in dem die Klientin die Aggressionen sehr verdeckt (mimisch) ausdrückte und dies bei Frau Tanner u. a. Schuldgefühle mobilisierte. Frau Tanner tendiert dazu, ihre Aggressionen nicht zu zeigen – aus Angst, der Kontakt zwischen ihr und der anderen Person könne abbrechen. Zwei entsprechende Vorerfahrungen im Team schienen diese Befürchtung zu nähren. Körperlich schlug sich das oftmals in „einen dicken Hals haben“ (einhergehend Anfälligkeit für Angina) nieder. Als ein Reflexionsfazit nannte sie die Eigenaufforderung, sich und ihre Aggressionen wahrzunehmen. In der folgenden 8. Stunde war ein außergewöhnlicher Streit mit ihrem Freund Thema. Hier hatte sie belastet durch Arbeiten ohne Pausen, Tagesstress und enttäuschte Erwartungen, dass ihr Freund nicht so auf sie einging wie sie es sich gewünscht hatte (ohne dieses explizit zu äußern), Sachen gesagt, die sie im Nachhinein bereute. Das Eingeständnis „Wenn es mir nicht gut geht, kann ich mich nur schwer auf der Arbeit abgrenzen“ (Stunde 8) und die Zusammenhänge zwischen ihrem Arbeits- und Kommunikationsstil und Aggressionsentstehung bei ihr konnten wir hier herausarbeiten. In der 9. Stunde war die Kommunikation mit dem Kollegen Thema, die wir anhand der Arbeitsübergabe analysierten. Dabei konnten wir das Interaktionsmuster, dass sie sich angegriffen fühlt (wobei dahin gestellt blieb, ob der Kollege einen Angriff beabsichtigte), sich verteidigt und ihrerseits angreift, herausarbeiten und ebenso die Parallele zu Interaktionsmustern mit der Mutter. Solche Situationen interpretierte sie als „dass ihr Wille gebrochen werden solle“. „Ich bin kein Kind mehr, die anderen Personen sind nicht meine Mutter. Ich bin o. k.“ (Stunde 9), lautete ihr Fazit. (Dass sie sich auf dem Nachhauseweg „fertig gemacht habe“, da ihr nichts Anerkennenswertes an sich eingefallen war, teilte sie mir zu Anfang der 10. Stunde nach fünf Wochen Unterbrechung mit).

II. Auswertung der 10. Supervisionssitzung

Die Sitzung unterteilte sich in zwei Themenbereiche: Zum Ersten ein Gespräch über die längere Unterbrechung der Supervisionssitzungen, das schwerpunktmäßig die Bilanzierung der bisherigen Sitzungen und die Frage nach der Weiterführung der Einzelsupervision einschloss, mit Auflistungen der neuen relevanten Themen. Und zweitens das gewählte Thema, dass sie eine Weiterbildung zur Suchtberaterin machen möchte, aber immer wieder die Anmeldung vergisst bzw. aufschiebt.

Die Beantwortung der Leitfragen werden ich teilweise auf beide Abschnitte, einige aber nur auf einen Abschnitt des Gesamtverlaufs beziehen. Das Verbatim entstammt dem zweiten Teil der Sitzung.

II.1 Eröffnung:

Der Sitzung waren zwei Telefongespräche wegen der Terminvereinbarung vorangegangen. Das erste wurde auf meine Initiative hin geführt, wobei ich Frau Tanner nach ihrem Interesse an der Fortführung der Einzelsupervision fragte. Sie entgegnete, dass sie froh sei, dass ich anriefe. Sie habe mich, nachdem die Krankheit und die Vertretung des Kollegen beendet waren, ihrerseits anrufen wollen, aber es sie ihr immer wieder „weggerutscht“. Das sei ihr „sehr peinlich“. Da aber zum verabredeten Termin ihrerseits nicht das zweite Telefongespräch zur konkreten Terminabsprache folgte, meldete ich mich bei ihr; jetzt kam der Termin zügig zustande. Zum Termin kam sie dann aber zehn Minuten zu spät, wobei sie fünf Minuten nach dem anvisierten Gesprächsbeginn telefonisch mitgeteilt hatte, dass sie später kommen würde. „Es ist mir peinlich, dass ich zu spät komme. Ich habe Schuldgefühle und setze noch einen drauf“, eröffnete sie die Sitzung. Dass darin eine versteckte Aggression enthalten sein könne, schien ihr anfangs sehr fern, später aber konkretisierte sie ihr Muster: Sie habe Schuldgefühle, setze einen drauf und stosse dabei den anderen vor den Kopf. Dass sie damit eine Distanz zwischen sich und den anderen setzt, spiegelte ich ihr zurück. In diesem Rahmen sah sie es als Problem an, dass sie zu Beginn der Problembearbeitung oder einer ärztlichen Behandlung sehr engagiert sei, aber sobald einigermaßen Ruhe eintrete, breche sie die Weiterarbeit ab, obwohl sie sehen könne, dass es noch gelte, einiges aufzuarbeiten. Dieses Muster habe sie hier wiederholt.

Hieran schloss sich die Bilanzierung dessen an, was sie bisher erreicht hatte, und was weitere Ziele waren. Am Ende war sie erstaunt, wie viel Ziele sie noch aufgelistete, dass es aus ihrer Sicht noch einiges zu bearbeiten gäbe.

In dieser Sequenz sah Frau Tanner vordergründig ihre Schuld- und Peinlichkeitsgefühle als Problem an. Dahinter verbarg sich die Befürchtung, ich könne über sie sehr verärgert sein (ausgesprochen) und vielleicht die Beratung abbrechen oder sie anderweitig bestrafen (meine Phantasie). Meine Hypothese ist, dass sie durch ihre offensiven Formulierungen quasi die Flucht nach vorne antrat, um mir den Wind aus den Segeln zu nehmen: Wenn sie ihre Schuld formulierte, dann konnte ich ja schlecht ihr einen Vorwurf machen. Das Beziehungsangebot des „Es ist mir peinlich“ empfand ich als sehr ambivalent. Entweder hätte ich beschwichtigen können, „so schlimm sei es nun auch wieder nicht“ (das war meine erste empfundene Gegenübertragungsreaktion), oder ins Horn stoßen können, dass „es wahrlich ärgerlich sei“. Bei Letzterem hätte ich mich dann aber schämen müssen, dass ich die ‚arme Frau’, die so streng mit sich ins Gericht ging, auch noch bestrafe. Meine stark empfundene Reaktion beim ersten Telefonat war a) völlige Überraschung, so etwas zu hören, und b) Unverständnis in dem Sinne, dass ich es inadäquat fand, so etwas zu hören, und auch nicht wusste, was ich damit anfangen sollte. Schließlich äußerte ich beim Telefonat, dass ich höre, dass sie sich gerade aus den Augen verliert, und bei der Eröffnung dieser Sitzung: „Das ist ja interessant.“ Dann schwieg ich erst einmal und wartete auf weitere Impulse von ihr. Bei der Sitzungseröffnung war mir des Weiteren auch wichtig, nicht als Therapeutin zu reagieren und den tiefen persönlichen Bereich dieser Aussage zu erfragen. Eine neutrale Position zu wahren, aus der heraus das Gesagte auf die Supervisandin rückzubeziehen war, so dass sie etwas über sich erfuhr und sich nicht in Beziehungsangeboten mit mir als Supervisorin ausagierte, empfand ich als die Herausforderung dieser Sequenz. Für die gesamte Sitzung hatte ich mir als Ziel gesetzt, a) mich nicht als Therapeutin verführen zu lassen, sondern klar in der Supervisorin-Rolle zu bleiben, b) die jeweiligen Themen, die sie ansprach, als solche zu benennen, was die Trennung bzw. das Hinweisen auf Privates oder Berufliches implizierte, und c) nicht für sie zu entscheiden (eine Fallgrube, in die sie ihr Gegenüber nach meinen bisherigen Erfahrungen schnell hineinlockte).

II.2 Thema: Weiterbildung

Sie eröffnete diesen Abschnitt mit der Aussage, dass sie gerne die Weiterbildung zur Suchtberaterin, die ein Jahr dauern würde, machen wolle. Dann wand sie sich scheinbar verschämt zur Seite, bedeckte ihren Mund (das hatte in meinem Empfinden durchaus etwas Kokettes) und sagte: „Na ja, ich mal wieder“, was sich auf den Tatbestand bezog, dass sie sich die Anmeldung zur Weiterbildung seit einigen Tagen vorgenommen, aber nicht ausgeführt hatte. Die drei Ebenen – ihren Wunsch, ihren Ärger über sich selbst (wobei ich die kokette Seite ausließ) und ihr reales Handeln – spiegelte ich ihr zurück. Sie schilderte ihr Problem in dem Sinne, dass sie etwas tun wolle und es dennoch nicht tue und dass sie als Suchtberaterin Konfrontation suchen müsse, was ihr aber schwer falle. Ich sah, auch aufgrund vorangegangener Sitzungen, einen Teil der Problemlage darin begründet, dass die Tätigkeit als Suchtberaterin vielleicht gar keine ihr angemessene wäre, vor allem unter Berücksichtigung der bisher erarbeiteten Ergebnisse – nämlich dass es ihr schwer fiel, Grenzen zu setzen, etwas mit anderen auszuhandeln, und dass sie schnell enttäuscht war, wenn sich andere nicht an Absprachen hielten. Die Herausforderung für mich war in diesem Abschnitt, nicht in die „Ich-weiß-was-gut-für-dich-ist“-Rolle zu verfallen und ihr meine Einschätzung von Anfang an direkt oder indirekt zu vermitteln, sondern das Gespräch so zu strukturieren, dass sie selbst erfahren konnte, was es mit ihrem inneren Widerstand auf sich hat. Dass sie mir ein Beziehungsangebot in Richtung „Hilf mir, sei meine verantwortungsvolle Mutter“ gemacht hatte, würde ich nicht sagen. Aber durchaus sah ich eine Aufforderung, diese Ambivalenz oder die Irrationalität zwischen Handeln und Denken für sie durch meinen „Rat“ zu lösen bzw. mich mit einer ihrer beiden Seiten zu verbünden. Wäre ich darauf eingegangen, so meine Phantasie, hätte sie daraufhin das Gegenteil gemacht.

Zu Beginn arbeiteten wir heraus, dass ihr Weiterbildungen an sich gefielen, sie gerne aus dem Alltagsarbeitstrott heraus wollte und vom Austausch mit den Kollegen profitierte. In ihrem aktuellen Tätigkeitsgebiet gab es eine Klientin, die neben der psychische Störung auch eine Suchtproblematik hatte. Dafür wäre sie gerne besser gewappnet gewesen. Die Arbeit mit dieser Frau laugte sie sehr aus. Sie hatte auch überlegt, ob sie kurzfristige Weiterbildungsangebote (tageweise) nutzen sollte, da sie nicht mehr die Zeit und Muße habe, sich allein durch Bücher zu informieren. Eine Informationsveranstaltung zur anvisierten Weiterbildung hatte sie versäumt zu besuchen. Ein großes Hindernis sei, eine Verpflichtung für eine lange Zeit einzugehen, davor scheue sie sehr zurück, sie brauche ein „gewisses Chaos“. Wir haben nicht vertieft, warum dies so ist, aber ich habe ihr die Möglichkeit gegeben zu reflektieren, ob das „gewisse Chaos“ vielleicht zu ihrer Struktur gehöre und es daher wichtig sei, diesen Punkt als eine Grenze, als einen Teil von ihr zu akzeptieren.

II.2.1 Verbatim:

S (Supervisorin): „Wofür könnte Ihnen die Weiterbildung als Suchtberaterin nutzen?“

FT (Frau Tanner): „Ich möchte gerne gewappnet sein, wenn ich mit Klienten mit Suchtproblematik arbeite. Das würde mir die Arbeit erleichtern. Hätte ich bei der jetzigen Klientin einiges schon im Vorgeld gewusst, dann hätte mich die Arbeit mit ihr nicht so mitgenommen.

Dabei fällt mir auf, dass diese Klientin ab September aus der Betreuung herausfällt. Dann hätte ich keinen Fall mehr. Meine Freundin, die auch Schwierigkeiten mit Sucht hat, fragt mich immer wieder, ob ich ihr helfen kann. Das könnte ich dann ja besser machen. Und außerdem fragt mich auch eine andere Freundin, die einen Alkoholiker zum Freund hat.“

S: „Im beruflichen Feld ist der Einsatz der Weiterbildung ab September geringer, aber im privaten Bereich könnte Ihnen diese Weiterbildung nutzen. Sie könnten ihre ‚private’ Arbeit besser machen.“

FT: (Schmunzeln): „Stimmt! Das könnte aber auch bedeuten, dass ich mich besser abgrenzen kann und es nicht mehr mache.“

(Es folgt eine Passage, in der sie über privates Helfen bei den beiden „Suchtfreundinnen“ spricht.)

FT: „Ich helfe viel den anderen. Auch bei meinem Freund fühle ich mich auf aufgerufen, ihm zu helfen. Ich glaube, er braucht meine Unterstützung jetzt …“

S: „Ich möchte Sie an dieser Stelle kurz unterbrechen. Wir haben bis jetzt überlegt, was Ihnen die Weiterbildung als Suchtberaterinnen nutzen kann. Dabei haben wir festgestellt, dass im aktuellen beruflichen Feld die Einsatzmöglichkeiten gerade geringer werden, dass diese Weiterbildung Ihnen aber auch im privaten Bereich nutzen kann. Jetzt sprechen Sie darüber, dass sie oft den anderen helfen und dies auch bei Ihrem Freund tun. Da eröffnen Sie eine neues Thema: ‚Ich helfe viel im Privaten’, während vorher dieser Themenaspekt explizit unter dem Überthema der Suchtberaterin lief. Möchten Sie das Thema mit Ihrem Freund jetzt vertiefen?“

FT: „Nein. Wir sollen bei der Frage nach meiner Weiterbildung bleiben. Aber das Thema, dass ich anderen im Privaten helfe und mich aufgerufen fühle, es tun zu müssen, und dass ich meinem Freund helfe und mich schwer abgrenzen kann, soll auf alle Fälle hier ein anderes Mal Thema sein.“

S: „Wie geht es Ihnen in der Arbeit mit Süchtigen?“

FT: „Ich fühle mich ausgelaugt, es fällt mir schwer. Aber ich muss das doch auch können. Ich muss doch das können, was mir schwer fällt.“

S: „So wie Sie das sagen, fühle ich mich ganz erschlagen von Ihrer Anforderung an sich selbst.“

Verbatim-Ende

II.2.2 Methodisches Vorgehen

Den zweiten Supervisionsabschnitt strukturierte ich mittels Fragen, die darauf abzielten, dass Frau Tanner folgende Bereiche in Bezug auf die Weiterbildung erfahren und sich damit verorten konnte: ihr Interesse, ihre unbewussten Neins, den Nutzen und ihre eigene Einschätzung hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zur Suchtberaterin. Des Weiteren achtete ich auf Themenzentriertheit und Verdichtung des Themas. Meine Arbeit am Fokalsatz – der wie folgt lauten könnte: „Ich muss mich immer sehr anstrengen, weil sonst die anderen merken, dass ich nichts wert bin“ (alternativ: weil ich sonst nicht geliebt werde) – war eher indirekter Natur. Den ersten Teil formulierte sie als einen inneren (unbewussten) Leitsatz, wobei ich ihr meine Gegenübertragung, wie sie am Ende des Verbatims stattfand, zur Verfügung stellte. Sie setzte diesen Satz damit in Verbindung, dass sie glaubte, dieser Anforderung genügen zu müssen, da sie überhaupt keine Vorstellung habe, was genau sie können müsse; ihr fehlten die Kriterien und da wolle sie „lieber auf Nummer sicher gehen“ und fordere alles von sich. Hieran schloss sich eine Realitätsüberprüfung an, was denn realistische Anforderungskriterien sein könnten, und die Information von mir, dass nicht jede Beraterin ihre Stärken sowohl im Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen und gleichermaßen ausgeprägt im Bereich des Umgangs mit Menschen mit Suchtproblematiken habe. Das wirkte erleichternd auf sie.

Im Großen und Ganzen schätze ich, dass mir meine Zielstellungen, wie ich sie unter II.1 beschrieben habe, ausreichend gelungen sind und die Supervisandin Reflexionsgewinn erzielen und Handlungsvorhaben ableiten konnte. (Eine gewisse Ambivalenz blieb im Vorhaben, dass sie sich nun unverbindlich anmelden wolle. Sie klang aber entspannter und weitaus weniger unter Druck. Deutlich war auch, dass die Reflexion noch nicht völlig abgeschlossen war.) Den Grund für das Gelingen sehe ich darin, dass ich mich zwar immer wieder auf die Supervisandin eingelassen habe, aber zeitgleich auch immer wieder ausreichend Distanz zur inneren Reflexion des Beratungsgeschehens aufbaute.

Dr. phil. Dipl.-Psych. Syliva Siegel (2006)

Dr. phil. Dipl.-Psych. Sylvia Siegel - Einzelsupervision in der Praxis

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