Gruppensupervision in der Praxis

Dr. phil. Dipl.-Psych. Sylvia Siegel (2005)

Der folgende Artikel veranschaulicht anhand eines Fallbeispiels einer Gruppensupervision das supervisorische Vorgehen und reflektiert es mittels Leitfragen.

I. Vorabinformation zur Supervisionsgruppe und zum bisherigen Verlauf der Gruppensupervision.

1. Größe und Zusammensetzung der Gruppe

Die Gruppe bestand aus 4 Teilnehmern, die Praktikanten in einem Träger waren, der in einer deutschen Großstadt im Bereich der Jugendarbeit (vorwiegend Straßenjugendliche) tätig war. Im Studium der Sozialarbeit in Deutschland ist es obligatorisch, 2 Semester Praktikum abzuleisten. Eins dieser Praktika leisteten diese Studenten zu diesem Zeitpunkt ab. Das Besondere an dieser Konstellation war, dass die Praktikanten aus unterschiedlichen Städten und auch Ländern kamen. Sie waren zwischen Anfang 20 und 30 Jahre alt. Im Einzelnen waren es folgende Personen:

Herr F. (30 J.), 7 Semester. Er studierte in der gleichen Großstadt und arbeitete 6 Wochentage im Hausprojekt des Trägers. Er hatte bereits eine Ausbildung als Bürokaufmann absolviert.

Frau D, (23 J.) 4 Semester, studierte in einer mittelgroßen Stadt in Süddeutschland und war im Streetwork des Projekt „full time“ tätig. (Dies ist ein anderes Projekt als das o. g.)

Frau G, 4 Semester, (24 J). studierte in Dänemark, war Dänin, sprach gut Deutsch, arbeitete im Hausprojekt 4 Wochentage.

Herr K, (27 J.) studierte in Bukarest und hatte ein Stipendium in der deutschen Großstadt mit dem ein Praktikum von 1 Wochentag im Hausprojekt verbunden war. Er sprach Deutsch, aber nicht so fließend wie die Dänin.

Es war eine interkulturelle Gruppe mit gleichmäßiger Geschlechterverteilung, die altersmäßig und vom Berufshintergrund annähernd homogen war. Die Teilnehmer begannen ihre berufsbezogenen Erfahrungen zum damaligen Zeitpunkt. Die Begrifflichkeiten „family“ oder „stranger group“ sind auf diese Gruppe nicht streng anwendbar, da sie zwar beim gleichen Träger aber in 2 unterschiedlichen Projekten arbeiteten.

2. Klientel und Arbeitsfelder der Supervisanden

Das Klientel waren Straßenjugendliche, von denen die meisten keinen festen Wohnsitz hatten. Die Ju­gendlichen hatten unterschiedliche, meist dramatische Lebensgeschichten hinter sich, die durch auffallende Bindungslosigkeit zu den Eltern, bzw. massiven Konflikten mit diesen gekennzeichnet wa­ren. Ebenso waren Verwahrlosung, auf-sich-selbst-gestellt-Sein und extreme Schwierigkeiten sich in einer Gemeinschaft ein zu finden, charakteristisch für sie. Der Lebensalltag der Jugendlichen war sehr unstrukturiert, sie gingen keiner geregelten Arbeit oder Ausbildung nach und Drogenkonsum, wobei hier vorwiegend Alkohol eine zentrale Rolle spielte, gehörte zum tägli­chen Leben. Der Drogengebrauch wurde in der Beratungsstelle in der Arbeit mit den Jugendlichen toleriert, es wurde aber in den Sitzungen nicht thematisiert wo diese Toleranz ihre Grenzen hatte. Im Streetworkprojekt (Frau D.) welches sowohl feste als auch mobile Zentren hatte, die an 2 zentra­len Plätzen der Stadt sich befanden, lag der Schwerpunkt der Arbeit darauf, den Jugendli­chen zunächst einmal eine Anlaufstelle zu bieten. Je nachdem, wie diese Anbindung verlief, konn­ten die Jugendlichen dann die anderen Projekte besuchen oder z. B. im Hausprojekt vorrübergehend sesshaft werden. Im Hausprojekt (Frau G., Herr F., Herr K.) wohnten zum damali­gen Zeitpunkt drei Jugendliche. Ziel war hier die Einbindung in einen strukturierten Alltag und Vorbereitung auf eigenständiges Wohnen mit festem Wohnsitz und, wenn möglich, auch das Erler­nen oder die Ausübung eines Berufes. Da die Jugendlichen die verschiednen Projekte des Trägers zu unterschiedlichen Zeiten besuchten, konnte es vorkommen, dass sie mit mehreren Mitarbei­tern des Trägers gleichzeitig oder zu unterschiedlichen Zeiten Kontakt hatten.

Die Arbeit der Praktikanten bestand hauptsächlich in folgenden Tätigkeiten:

  • Direkter Kontakt mit den Jugendlichen in den Bereichen Freizeitgestaltung, Gruppenarbeit und/oder Wohnen
  • Begleitung der Jugendlichen zu Behörden, Ärzten etc.

Diese Tätigkeiten müssen auch in Zusammenarbeit mit den anderen Mitarbeitern stattgefun­den haben. Derartige Arbeitsmomente waren aber nicht Gegenstand in der Gruppensupervision. Die Praktikanten arbeiteten mittlerweile in einigen Bereichen recht selbstständig in Absprache mit den festangestellten Mitarbeitern. Dazu sollte man wissen, dass ein Praktikum bis zu knapp 6 Mona­ten dauern kann und die Praktikanten zu Beginn der Gruppensupervision schon über die Hälfte der Praktikumszeit abgeleistet hatten, d.h., gewisse Einarbeitungszeiten bereits absolviert waren. F., G., K. hatten den gleichen Anleiter Herrn B., Frau D. hat eine andere Anleiterin, kannte aber Herrn B auch gut. Das Verhältnis zu Herrn B. wurde als positiv geschildert und er erschien ihnen als ein erstrebenswertes Vorbild.

3. Beschreibung der Institution, in denen die Supervisanden arbeiten.

Der Träger war eine Beratungsstelle in einer deutschen Großstadt mit verschiedenen Unterprojek­ten für Straßenjugendliche. Ziel war, wie unter 1. erwähnt, der Kontaktaufbau zu den Straßenjugendli­chen mit mobilen und festen Zentren und die Vorbereitung auf Wohnen mit festem Wohnsitz. Dazu gab es insgesamt 4 Projekte: Streetworkprojekt mit Beratung, Sleep-In, Hauspro­jekt und ein viertes, dessen Name und Bestimmung den Supervisanden nicht deutlich in Erinnerung war. Die Finanziers des Trägers waren die städtische Behörde für Jugend und Sport, die für die Personalmittel sorgte und ein städtischer Jugendhilfeträger, der die Sachmittel stellte. Die Zielsetzung und Aufgabengrundlage des Trägers bildete das KJHG-Gesetz. Die einzelnen Pro­jekte arbeiteten relativ selbstständig, hatten aber einen übergeordneten Chef und gemeinsame Gruppen­sitzungen in ca. 2-wöchigem Abstand. Es gab netzwerkartige Verbindungen zwischen den Pro­jekten. Bei der Erstellung des Organigramms war auffallend, dass die Supervisanden alle verges­sen hatten, den gemeinsamen Chef einzutragen. Für sie war die Hauptbezugsperson der Anlei­ter Herr B. Die meisten Praktikanten wussten von den Großgruppensitzungen, gingen dort aber eher ungern hin. Zum Träger selbst ist noch zu bemerken, dass er sich in einer Umstrukturierungs­phase befand, von der keiner wusste, wann sie letztlich stattfinden und welche Form sie haben würde. Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keinen Belegungsdruck in Bezug auf die Wohnplätze im Hausprojekt. Es sei jedoch davon auszugehen, dass sich dies mit der Umstruktu­rierung ändern würde.

Aufgrund der Rolle und Stellung der Praktikanten kann ich an dieser Stelle keine weiteren Informatio­nen über informelle und formelle Strukturen der Einrichtung, Qualifikation der Mitarbei­ter etc. ermitteln. Die Hauptbezugspunkte der Praktikanten lagen einerseits beim Anleiter andererseits in der direkten Arbeit mit den Klienten.

4. Kontrakt

Es war ein Dreieckskontrakt zwischen der Beratungsstelle, den Supervisanden und mir als Supervisorin. Auf der Beratungsstelle war Herr B. dafür verantwortlich, dass die Gruppensupervision stattfin­den konnte, allerdings musste er sich mit der Finanzstelle betreffend der Finanzierung absprechen. Der Kontrakt bezog sich zunächst auf einen bestimmten Zeitraum (Mitte April bis Juni), in dem alle Praktikanten beim Träger beschäftigt waren, wurde anschließend aufgrund des Interesses seitens 2 Praktikanten, die nicht wie die beiden anderen Ende Juni ihr Praktikum beendeten, um einen Monat verlängert. Die Sitzungen dauerten 90 Minuten und fanden alle 2 Wochen in meinen Räumen statt.

5. Anlass für die Gruppensupervision – Vorkontakt:

Mit dem Leiter der Beratungsstelle Herrn B., der der Anleiter für die Praktikanten war, kam ich anlässlich einer Tagung zusammen. Da die Beratungsstelle derzeit 4 Praktikanten aus unterschiedlichen Städten und auch Ländern hatte, erschien es dem Leiter lohnenswert, eine Gruppensupervi­sion durchführen zu lassen. Nachdem er die finanziellen Regelungen abgeklärt und es grü­nes Licht für die Gruppensupervision gegeben hatte, meldeten sich Praktikanten sehr schnell bei mir. Sie schlugen die 2-wöchige Frequenz vor. Im Sondierungsgespräch, welches ca. 20 Minuten dauerte und dann in die erste Supervisionssitzung überging, wurden folgende Themen als Ziele und Gegenstand der Gruppensupervision benannt:

  • Arbeitsprozesse reflektieren, mögliche alternative Herangehensweisen entwickeln
  • Eigene Einstellungen und ihre Auswirkung auf die Arbeit reflektieren
  • Austausch mit den anderen
  • Spezifische Problemlagen in der Arbeit mit obdachlosen Jugendlichen

Als eine weitere Erwartung, die aber nicht im Kontrakt fixiert wurde, hatte Herr F. Frustabbau benannt. Da er sich aber generell sehr frustriert fühle, wollte er es nicht unbedingt als Kontrakt­punkt aufgelistet finden. Ein weiterer genannter Punkt, die Problematik des Sich-unkompetent-Fühlens, wurde von der Protagonistin als in Punkt 1 und 3 aufgehoben, betrachtet.

6. Gruppenrollen

Herr F. war derjenige, der den telefonischen Kontakt mit mir aufgenommen hatte und zunächst sehr bestimmend wirkte. In den ersten Minuten wirkte er als der Gruppenführer. Auch in den folgen­den Sitzungen gab es immer wieder Momente, wo er eine bestimmende Rolle innerhalb der Gruppe in Bezug zu mir einnahm. Meine Phantasie zu ihm war, dass er mich durchaus gleich zu Anfang im Sinne einer Konkurrenz herausforderte und gerne bereit war sich mir gegenüber in eine kämpferische Position zu stellen. Mir war auch bewusst, dass er mich an Anteile von mir selbst erinnerte, vor allem an die Art, wie ich früher mit Autoritäten in Kontakt kam.

Frau D. war oft die Protagonistin, die Fälle einbrachte und outete sich auch in bezug auf eine ge­wisse Alkoholproblematik. Sie erschien als einzige Teilnehmerin nicht regelmäßig. Das eine Mal hatte sie verschlafen, obwohl ihr am Vorabend der Termin noch deutlich vor Augen stand – dies geschah nach der im Verbatim geschilderten Sitzung-, das andere Mal konnte sie an der Abschlusssitzung der Gruppe nicht teilnehmen aufgrund einer notwendigen Fahrt zu ihren Heimat­ort. Sie war diejenige, die nicht mit den 3 anderen zusammenarbeitete, d.h., sie war in einem anderen Projekt. Auf der anderen Seite übernahmen sie und Herr F. oft das Gespräch. Dies mag u. a. auch am Sprachvermögen gelegen haben, d.h., sie waren die beiden Deutschen. Sie hatte eine Rolle in der Gruppe inne, in der sie einerseits sehr präsent, aber auch sehr verletzlich war.

Frau G. wirkte etwas zurückhaltend, aber machte dabei nicht den Eindruck auf mich, schüchtern zu sein. Mein Bild zu ihr ist: in 2ter Reihe stehend, aber sehr präsent den Prozess verfolgend und aus dieser Position auch eingreifend und sich beteiligend. Ihr Hauptthema im Praktikum war Gren­zen setzen lernen. In den Spielsituationen in der Gruppensupervision war sie diejenige, die sehr deutlich, klar und schnell Grenzen setzen konnte. Grenzen, an denen man nicht vorbei kam, die aber auch nicht starr oder provokativ wirkten. Die Tatsache, dass sie in der Auswertung die Supervision als Verarbeitung persönlicher Erfahrungen reflektierte, hätte ich zu Anfang nicht vermutet.

Herr K. hatte zu Anfang eine gewisse Außenseiterrolle inne. Das 2. und 3. Mal verspätete er sich erheblich, später kam er rechtzeitig und zum Ende hin erlebte ich ihn als einen Teil der Gruppe. Anfangs sprach er sehr lange und mit großer Anspannung. In dem was er sagte, holte er in den ersten Stunden sehr weit und eher intellektuell aus, in der Art, was man als gebildeter Sozialarbei­ter wissen müsse. Damit bezog er zunächst keine klare Position. Man konnte sie zwischen den Zeilen lesen oder erraten. Wenn er sprach, empfand ich eine große Anspannung und Druck im Raum. Gegen Ende des gesamten Supervisionsprozes­ses, spannte er sich beim Sprechen teilweise noch körperlich an, wie z. B. arg angespannte Füße, aber insgesamt schien er selbstsicherer geworden zu sein. Er lernte sich direkter auf das Gesagte in sei­nen Antworten zu beziehen. Es wurde auch deutlich, dass er manches mehr in Bildern aus­drückte. Die Gruppe und auch ich lernten ihn nicht nur von den Worten sondern auch von seiner Ausdrucksweise her zu verstehen. Er vermied eine zu direkte Positionierung bis zum Ende des Supervisionsprozesses, ließ aber seine Position klarer werden. (Hier ist vielleicht noch ein Wort zu Ru­mänien zu sagen. Bis Ende der 80 Jahre herrschte die Causesču-Diktatur. Ihr Ende bezeichnet Herr K. als Revolution. Seitdem hat zwar eine intellektuelle Öffnung stattgefunden, Sozialarbeit wird seitdem erst als Fach gelehrt und genutzt, aber gleichzeitig sind große Teile der Vergangen­heit noch nicht verarbeitet. Ich gehe davon aus, dass eine sehr explizite Positionierung in der Öffentlich­keit noch nicht in der Alltagskultur etabliert ist, bzw. dass man eher in assoziativer Art Stellung bezieht.)

7. Bisheriger Verlauf des Supervisionsprozesses

Das erste Treffen enthielt sowohl eine Sondierung als auch schon konkretes supervisorisches Arbei­ten. In der 20-minütigen Sondierung wurden folgenden Themen besprochen:

Die Supervisanden hatten nur wenig bis gar keine Supervisionserfahrung.
Es war ihnen zu Anfang nicht klar, dass über das in der Supervision Mitgeteilte Verschwiegen­heit bewahrt werden würde. Sie waren sehr erleichtert zu hören, dass dem so sei. (Das Thema wurde von Frau D. angebracht.)
Aus der Frage nach den Erwartungen an die Gruppensupervision, ergaben sich die Themen.

Zu bearbeitende Themen waren: Reflektion von Arbeitsprozessen, u. U. Entwicklung möglicher Alternativherangehensweisen, eigene Einstellungen und ihre Auswirkung auf die Ar­beit reflektieren, der Austausch mit den anderen und spezifische Problemlagen in der Ar­beit mit obdachlosen Jugendlichen.

Die Erstellung und Auswertung eines Organigramms waren dann Gegenstand der folgenden supervisori­schen Arbeit. (Das Organigramm eignet sich bei einer Gruppe, die wenig Supervisionserfahrung hat gut, den Einstieg zu strukturieren und einen Überblick über die Organisation zu erhalten. In der Auswertung des Organigramms ergab sich u. a., dass durch die bevorstehende Umstrukturierungsphase in manchen Projekten eine ge­wisse Unruhe aufkam, sie lud auch ein, sich über die Arbeit auszutauschen, einen Themenein­stieg zu finden. Am Ende kam der Fall einer Klientin zur Sprache, der in den verschiednen Projek­ten bekannt war. Hier war die Herausarbeitung der Empathie der Supervisanden mit der Klientin der zentrale Aspekt. Die Teilnehmer äußerten am Ende ihre Erleichterung darüber, dass hier keine Einzelsupervision stattfand und es war ihnen wichtig gewesen, mitzubekommen, wie ich arbeite. Damit war diese erste Sitzung aus Sicht der Supervisanden ein Testdurchlauf gewesen, den sie als für sich positiv bewerteten.

In der 2. Supervisionssitzung kam Herr K. 30 Minuten zu spät, was einige Unruhe in die Sitzung brachte, da ich dreimal auf das Klingeln hin zur Tür ging. (Normalerweise gehe ich während der Gespräche nicht an die Tür). Ebenso geriet der Prozess ins Stocken, da Herr K. auch über den aktuel­len Stand informiert werden musste. Als mögliche Themen standen an: die „Jugendlichen werden frecher“, Rollenerwartungen an die Praktikanten, Frustration auf der Arbeit. Die Gruppe entschloss sich für das erste Thema. Nachdem ich das methodische Vorgehen der Balint-Gruppenar­beit erläutert habe, begann Frau D. die Falldarstellung, an die sich die Informations- und Gefühlsrunde anschloss. Die Teilnehmer waren schnell dabei Handlungsweisen vorzuschlagen, es fiel ihnen jedoch schwer sich mit der Protagonistin oder dem Klienten gefühlsmäßig zu identifizie­ren, bzw. eigene Gefühle zum Gehörten auszudrücken. Herr K. setzte in seinen Beiträ­gen mit sehr langatmigen Monologen an, wobei ich am Ende jeweils versuchte Gesagtes auf den Punkt zu bringen. Da aus meiner Sicht das Ganze Gefahr lief zu einem Reden-Über zu werden, machte ich den Vorschlag, um Handlungsalternativen zu entwickeln, in eine andere Methode, näm­lich in die des Rollenspiels, zu wechseln. Der Vorschlag wurde angenommen. Zu Beginn der Rollenspiele fielen Frau D. wichtige Aspekte in bezug auf den Fall ein. Im 1. Rollenspiel spielte Herr F. den Klienten und Frau D. die eigene Rolle der Beraterin. Im Rollen- und Zuschauerfeed­back und in den folgenden Spieldurchläufen mit wechselnden Beraterbesetzungen wurden jeweils wei­tere Aspekte der Situation Frau D. deutlicher. Im Mittelpunkt stand die Abgrenzungsproblema­tik. Es wurde den Teilnehmern deutlich, wie wichtig es ist, sich adäquat angrenzen zu können und u. a. auch, dass zuviel Abgrenzung die Beziehung gefährden kann. Im Abschlussgespräch reflektier­ten sie ihre Erfahrungen nochmals.

II. Verbatim

Beginn der Supervisionsstunde vor dem Verbatim:

Zu Sitzungsbeginn entschieden die anwesenden Teilnehmer Frau D, Frau G., Herr F. die Sitzung auch ohne Herrn K. zu beginnen, da er meistens später käme. Ich fragte zunächst nach dem, was beim letzten Mal nachgewirkt habe. Frau D. erwiderte, dass die in der letzten Stunde besprochene Problematik nicht mehr aufgetreten sei. Die anderen benannten keine Nachwirkungen. Es begann die Themenfindung, die unterbrochen wurde durch Herrn K.’s verspätete Ankunft. Auch ihn fragte ich, was nachgewirkt habe. Herr K. begann zu erzählen, was er in den letzten beiden Wochen im Praktikum erlebt hatte. Er wurde von Frau D. darauf hingewiesen, dass es nicht um einen Bericht ginge. In diesem Sitzungsverlauf zeigte sich mehrfach, dass die anderen Teilnehmer Herrn K. da­nach fragten, wenn sie etwas nicht verstanden hatten oder wenn sie wissen wollten, was er denn genau meine. Diesen Teil der Arbeit hatte ich in den vorherigen Stunden selbst übernommen. Meiner­seits sprach ich an diesem Tag an, dass mir eine Bemerkung von Herrn K. hängen geblie­ben sei, in der er sich für sein „nicht so gutes Deutsch“ entschuldigt hatte. Ich bat ihn, es mir zu sagen, wenn ich etwas sagen oder tun würde, was ihn sich unwohl fühlen ließe. Außerdem verwies ich auf unsere unterschiedlichen kulturellen Hintergründe, die durchaus zu Verstehensschwierigkei­ten führen könnten. Ich hatte den Eindruck, dass er auf diese Bemerkung mit einem Lächeln und viel Zustimmung antwortete.

Die Supervisanden einigten sich zunächst auf das Thema eigene Einstellungen und ihre Auswirkun­gen auf die Arbeit. Gesprächsbeiträge kamen und Frau D. konkretisierte, dass es für sie um Alkohol ginge. Sie sei manchmal auch betrunken und frage sich öfters, inwiefern sie denn an­ders als die Jugendlichen sei, die sie betreue. Dabei sei ihr rational ein zentraler Unterschied be­wusst, sie bekäme ihr Leben auf die Reihe, während die Jugendlichen damit Schwierigkeiten hät­ten. Gefühlsmäßig sei ihr dieser Unterschied aber nicht deutlich. Sie habe öfter so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Sehr problematisch seien für sie vor allem die Situationen in ihrem Privatle­ben, in denen sie Jugendliche, die sie betreue, treffen könne wie z.B. in Discos und auf großen Veranstaltungen. Die anderen fügten daraufhin ihre Erfahrungen mit Alkohol oder Drogen hinzu. Herr F. hatte vor 6 Jahren aufgehört zu trinken und zu kiffen, was er wohl vorher sehr viele Jahre gemacht hatte. Frau G hatte früher nicht Alkohol und Drogen genommen. Es läge vielleicht daran, dass sie auf dem Land groß geworden ist. Sie hatte aber Freunde gehabt, die Alkohol getrunken haben. Zu einem späteren Zeitpunkt erzählte sie, dass sie jetzt keinen Alkohol mehr trinke, da er ihr nicht mehr bekomme. Bei Frau G. konnte ich weder heraushören und auch nicht über Nach­frage für mich befriedigend klären, wie ihre persönlichen Gefühle gegenüber alkoholisierten Men­schen seien. Deutlich wurde aber, dass sie als Profi eine tolerante Einstellung habe: es sei nicht ihr Leben. Sie mache sich aber Sorgen, wenn sie wegginge und der Klient sei betrunken. Herr K. ver­wies darauf, dass in Rumänien Alkoholkonsum in der Sozialarbeit nicht so toleriert sei wie in der BRD.

Verbatim im Folgenden.

Frau D.: „Es gibt doch die Erwartungen der anderen an mich, die Vorstellung, dass ich als Sozialarbeite­rin ein Vorbildsein sein muss. Da kann ich dann nicht betrunken sein, wenn die Jugendlichen mich treffen. Ich glaube auch, dass ich nur bei besonderen Gelegenheiten soviel trinke. Da kann es ja mal vorkommen, dass ich eine Menge intus habe. Wenn ich wieder in meiner Hei­matstadt bin, gibt es gar nicht so viele Gelegenheiten. Und wenn ich älter bin, dann habe ich sicherlich diese Phase durchlebt. Dann wird das kein Thema sein.“

Herr F.: „Wie kann man denn Sozialarbeit machen, wenn man ein Alkoholproblem hat?“

Frau D.: „Ich habe nicht gesagt, dass ich ein Alkoholproblem habe. Das würde ja ganz anders aussehen.“

Herr F.: „Stimmt. Das hast du nicht gesagt.“

Supervisorin: „Es geht hier eher um Tendenzen.“

Frau D. nickte zustimmend

Herr F.: „Es ärgert mich, dass man als Sozialarbeiter immer ein Vorbild sein muss. Da darf man nicht nur Sozialarbeiter sein. In anderen Berufen interessiert es keinen, was man außerhalb seiner Arbeitszeit macht. Nach Dienstschluss ist man wieder Privatperson. Wenn ein Maurer sich nach der Arbeit besäuft, ist es ganz und gar sein Problem. Aber von einem Sozialarbeiter erwartet man, dass er immer ein Vorbild ist. Wenn man Sozialarbeiter ist, dann muss man es 24 Stunden am Tag sein. Das finde ich ungerecht.“

Frau G.: „In Dänemark ist das anders. Da fragt keiner nach, ob man Alkohol trinkt oder nicht. Da ist es viel wichtiger, politisch auf der richtigen Seite zu sein. Links sollte man sein und nicht rassis­tisch. Darauf gucken die Leute. Der Alkohol spielt in der Erwartung der Leute an den Sozialarbei­ter keine Rolle.“

Frau D.: „Das ist hier etwas anders. Aber ehrlich gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Sozialarbeiter rechts ist. Das passt auch nicht ins Bild.“

Supervisorin.: „In der BRD gibt es eher eine moralische Erwartungshaltung, während in Dänemark eher die politische Erwartungshaltung eine Rolle spielt.“ Die anderen nickten.

Supervisorin: „D. spricht eine wichtige Problematik an. Es gibt ja nicht nur die persönliche Ebene, ob jemand Schwierigkeiten mit Alkohol oder Drogen hat. In vielen Beratungsstellen wie z.B. Hydra, Wildwas­ser und auch in vielen Drogenberatungsstellen gibt es das Konzept, dass dort die Mitarbei­ter ehemalige Betroffene sein sollen. Man geht davon aus, dass die ehemaligen Betroffenen, die das Problem überwunden haben, auch eine höhere Sensibilität für die Problematik ha­ben. So haben sie z. B. ein spezifisches Wissen um Sprachgebrauch. Sie wissen wie das Klientel spricht, wissen, was die Worte bedeuten, können sich mit ihnen direkter unterhalten. Und sie ha­ben natürlich auch mehr Wissen und Erfahrungen im Umgang mit der Problematik. Das ist dann nicht nur erlernt, da steht sehr viel Selbsterfahrung dahinter. Und das spüren auch die Klienten.“

Frau D: „Es ist noch mal gut zu hören, dass es diese Betroffenensichtweise in der Sozialarbeit gibt.“

Supervisorin: „Ich möchte an dieser Stelle eine Feedbackrunde zu Frau D. ’s Erzählung vorschlagen. Kurz noch mal zur Information. Feedback meint: ich rede von mir, was das Gesagte in mir auslöst, meine Gedanken, Gefühle, Phantasien dazu. (Anmerkung: Die Teilnehmer hatten noch Schwierigkei­ten Feedback zu geben. Sie schlugen schnell Lösungen vor, gaben Tipps und Ratschläge. Ein klares Feedbackgeben war noch ein Lernprozess für sie.)

Herr F.: „Ich kann gut verstehen, dass es eine doofe Situation ist, wenn Du auf einer Party bist, etwas getrunken hast und einer der Jugendlichen taucht dann neben Dir auf. Ich habe sehr lange sehr viel Alkohol getrunken und gekifft. Das hat mir nichts gebracht. Und dann habe ich mich entschie­den damit Schluss zu machen. Für mich war das gar nicht so schwer, aber die anderen haben lange gebraucht, um mitzubekommen, dass ich mit ihnen keine Joints mehr rauche. Die haben mir immer und immer wieder einen Joint angeboten. Ich konnte gar nicht verstehen, dass die es nicht schnallen. Aber eins ist doch sonderbar. Ich sehe, dass die 50x am Tag lachen und ich nicht einmal. Und ich bin so oft frustriert. Vielleicht ist es doch besser, sich einen Joint zu drehen und einen schönen Tag zu haben. Ich lache so gar nicht mehr.“

Frau D.: „Ich habe auch Freunde, die Probleme mit Alkohol haben. Die trinken eine ganze Menge. Ich trinke nicht mehr. Mir bekommt es nicht, ich bekomme davon Magenschmerzen.“

Herr K.: „ In Rumänien gibt es jetzt auch die Anonymen Alkoholiker. Das ist ganz neu bei uns. Das ist etwas Besonderes. Da gehen dann die Leute, die ein Problem mit Alkohol haben, hin. Die sprechen dann und solange sie da sind, trinken sie auch nichts. Aber wenn sie dann wieder wegge­hen, gehen sie doch in die nächste Gaststätte und trinken wieder.“

Frau D.: „Was hat das denn jetzt mit dem zu tun, was ich erzählt habe?“

Herr K. wiederholt Teile, von dem was er gesagt hat.

Frau D.: „Was hat das mit mir zu tun?“

Herr K kann so direkt ihre Frage augenscheinlich nicht beantworten.

Supervisorin an Herrn K. gewandt: „Du sprichst von den Anonymen Alkoholikern in Rumänien. D. hat von ihrem Problem gesprochen, das sie hat, wenn sie Alkohol getrunken hat und auf Klienten treffen könnte. War vielleicht für Dich der Alkohol der Zusammenhang mit D. ’s Erzählung? (K. nickt)

Noch mal zum Feedbackgeben. Im Moment geht es darum, dass man eine persönliche Rückmel­dung an die Erzählerin gibt, wie die Gefühle, Gedanken, die die Erzählung bei einem selbst ausge­löst hat.“

Herr K.: „Ich verstehe. Aber dazu kann ich nichts sagen.“

Supervision: „Ich finde es selbst immer wieder einen spannenden Prozess, wenn man von etwas selbst betrof­fen ist oder war. Da geht es immer wieder um Grenzen, eigene Grenzen erforschen, sich nach au­ßen hin abzugrenzen. Und man stellt sich natürlich auch immer wieder in Frage. Das ist sicherlich kein einfacher Prozess. Aus eigener Erfahrung weiß ich – in meinem Erfahrungsbereich geht es eher um psychische Störungen- wie gewinnbringend die eigenen verarbeiteten Erfahrungen dann in der späteren Arbeit sind.“

Frau D: „Endlich mal einer, der etwas Positives dazu sagt.“

Damit war dieses Thema abgeschlossen und in den letzten 30 Minuten beschäftigte sich die Gruppe mit dem Thema: Sind Klienten Freunde? Was heißt es „professioneller Freund“ der Klien­ten zu sein? Während in bezug auf die Alkoholproblematik die Atmosphäre eher gereizt war und vermutlich das Endergebnis nicht so zufriedenstellend, konnten die Teilnehmer beim 2. Thema sehr klar für sich Position beziehen und kamen mit einer selbsterarbeiteten Erkenntnis aus dem Prozess heraus. Die gereizte Atmosphäre zeigte sich dann aber wieder beim Abschied.

III. Auswertung der Supervisionssitzung

Zu Anfang möchte ich darauf hinweisen, dass die Supervisanden nur wenig bis gar keine Supervisionser­fahrung hatten und dass sie Praktikanten waren. Ein Teil der Aufgabenstellung in der Gruppensupervision bestand immer wieder darin, ihnen Supervisionsmethoden und –vorgehen vertraut zu machen. Ein selbstreflexiver und auf gegenseitiges Verstehen ausgerichteter Umgang mit den Ko-supervisanden musste noch erlernt werden. Im Vordergrund stand bei ihnen der Wunsch rasch Lösungen zu finden und im Studium Gelerntes schnell in die Praxis umzusetzen. Über den gesam­ten Supervisionsverlauf gewann ich den Eindruck, dass die Erfahrung in einem vertieften Ge­spräch mehrere Standpunkte nebeneinander bestehen zu lassen, wobei gerade dieser Moment auch oft den Gewinn ausmacht, neu für sie war. Hinzu kam auch eine gewisse Zurückhaltung und Unsicher­heit. Sie äußerten sich öfter, dass sie froh waren, nicht Einzelsupervision machen zu müs­sen, da es doch sicherer in der Gruppe sei, in der man sich auch manchmal verstecken könne. Als dritte Besonderheit möchte ich auf die Interkulturalität der Gruppe hinweisen. Das Sprachproblem stand dabei m. E. nicht so sehr im Vordergrund. Ich hatte kaum Schwierigkeiten die Worte als solche zu verstehen, aber manchmal den, in den Bildern transportierten Sinngehalt. Über die Verstehens- oder Sprechschwierigkeiten der beiden Nichtdeutschen kann ich nur spekulieren, da sie selten direkt nachfragten, bzw. rückmeldeten, sie hätten es verstanden. Mein Gefühl zur sprachlichen Verständigung war, dass sie gut ablief. Die Besonderheit der Interkulturalität schlug sich vielmehr in unseren verschiedenen Sozialisationserfahrungen und kulturellen Annahmen nie­der. (An der Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass Herrn F.’s Eltern, so meine Vermutung, nordafrika­nischer Herkunft waren. Diesen Aspekt haben wir aber nie angesprochen). Für diese Stunde bedeutete dies sowohl unterschiedliches Herangehen an das Tabuthema Alkohol und beinhal­tete auch kulturell unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungshaltungen an den Beruf des Sozialarbeiters. Auf den Aspekt der Interkulturalität habe ich während der Supervisionsgespräche öfter explizit hingewiesen und er wurde von den Teilnehmern als Chance begriffen, Neues voneinander zu lernen. Aus meiner Sicht hatte der Aspekt der Interkulturalität für diese Gruppe zur Folge, eigene Wertehaltungen zu hinterfragen und alternative Einstellungen ken­nen zu lernen. Das ist ein Prozess, der auch mit einer temporären Verunsicherung einhergeht.

Die beiden großen Themen dieser Sequenz waren Alkohol und Rollenidentität als Sozialarbeiter. Im Zentrum stand die zugespitzten Frage: Darf ich als Sozialarbeiter betrunken sein? Frau D. nahm in dieser Sitzung die Rolle der Protagonistin ein, da sie sich selbst mit diesem Problemas­pekt outete. Dabei führte sie das Thema nicht direkt ein, sondern über den Umweg des Themas Eintellungen, die sie dann konkretisierte. Das Tabuthema Alkohol impliziert, dass man einerseits nicht direkt darüber spricht, andererseits sich durchaus bis zur Gesundheitsgefährdung betrinkt, aber nach außen hin den guten Schein wahrt. Frau D.’s indirekte Einführung des Themas bringe ich mit der dem Thema immanenten Dynamik in Zusammenhang. Diese Dynamik spiegelt sich auch in Frau G.’s eher zurückhaltenden und letzten Endes widersprüchlichen Aussagen zum eige­nem Konsumverhalten und wenig ausdifferenzierten Gefühlen gegenüber Betrunkenen wider. (An dieser Stelle bin ich mir bewusst, dass ich ihr unterstelle, dass sie mehr Gefühle zu dem Thema hat, als diejenigen, die sie äußerte. Diese Phantasien entstehen bei mir einerseits aufgrund ihrer zögerlichen Antworten und andererseits weil ich eine Schilderung von ihr vor Augen habe, in der sie über 4 kg Körpergewicht in der Anfangszeit ihres Praktikums abgenommen hatte, weil sie von dem Essverhalten eines Jugendlichen sehr angeekelt war, sie aber dennoch ihren Arbeitsauftrag, mit ihm zu frühstücken, erfüllte). Ebenso deute ich Herrn K.’s Schilderung des Verhaltens der rumänischen anonymen Alkoholiker als indirekte Anspielung an die Doppelmoral zum Thema Alkohol. In meinen Interventionen sehe ich auch eine Konfluenz, das Thema nicht zu explizit anzuge­hen, bzw. kann man es auch als eine Gegenübertragung deuten, in der ich die Vermeidung das Alkoholthema direkt anzugehen mit den Supervisanden ausagierte, anstelle mich davon zu distanzieren. In dieser Hinsicht sind folgende 2 Punkte erwähnenswert: 1) In der Beratungsstelle wird toleriert, dass die Jugendlichen betrunken sind. (Welche Regeln des Trinkverhaltens in der Beratungsstelle selbst gelten, ist nicht angesprochen worden. Aus anderen Erfahrungsberichten zu der Beratungsstelle weiß ich aber, dass es zwar verboten sein kann, in einem Raum zu trinken, was aber die Jugendlichen nicht davon abhält, auf der Toilette oder vor der Haustür den Alkoholpegel wieder aufzufüllen). 2) In der 2. Sitzung hatte Frau D. darüber gesprochen, dass sie eine Mitarbeiterin in ihrem Projekt sehr betrunken erlebt hatte. Kurz hatte sie angeschnitten, dass die­ser Umstand für sie problematisch gewesen sei, da sie nicht gewusst habe, wie sie damit umgehen solle. Zu diesen beiden Punkten konnte ich während der Sitzung keine Verbindung herstellen. Dies mag an meiner ausagierende Gegenübertragung, meiner Konfluenz oder einer allgemeinen Läh­mung im Raum das Tabuthema Alkohol nicht zu vertiefen, gelegen haben. Um diesen Themenkom­plex abzuschließen, möchte ich auf die prinzipiell andersartige Verhalten des Herrn F. hin­weisen. Während Herr K. und Frau G. sich eher zurückhaltend oder indirekt zu dem Thema äußerten, ging er mit dem Bekenntnis seines Ex-Drogen-Alkoholproblems, an das sich auch einige Zwei­fel anschlossen, sehr offensiv in das Gespräch.

Mit dem Tabuthema Alkohol war auch die Frage nach der Vorbildfunktion des Sozialarbeiters angesprochen, wobei gerade die Mischung dieser beiden Themen die Brisanz erzeugte. In der Nachbetrachtung beeinflussen zwei Faktoren meine Vorgehensweise bzw. meine fehlende Sensibili­tät. Zum einem habe ich in meinen Berufssozialisationen wenig bewusste Erfahrung mit der Rollenfindung gemacht, zum anderen kannte ich zwar die Aspekte der Kontrolle versus Hilfe als Aspekte des sozialarbeiterischen Handelns, war aber unwissend, dass der Aspekt der Vorbildfunk­tion in punkto sozialem Gewissen ein Teil der Rollenidentität der Sozialarbeiter ausma­che. (Es hatte mir ein Teil de Felderfahrung gefehlt.) So hatte ich zwar verstanden, dass die­ser Punkt ein Thema für die Anwesenden war, konnte aber die Dimension, die es für sie einnahm und die sie für mein Verständnis eher indirekt äußerten, nicht nachvollziehen. Wenn auch diese Aspekte angerissen waren, so blieben sie aber letztlich sehr unausgesprochen und wenig gelöst zurück. Dies schlug sich m. E. in der gereizten und ermatteten Endstimmung der Teilnehmer nie­der, wobei auch die Unterbrechungen und der Ärger, der durch das Zuspätkommen von Herrn K. entstand, eine Rolle gespielt haben dürften.

Seitens Frau D. hat es wohl die Erwartung nach mehr Verständnis und Schutz während des Ge­sprächs gegeben, derweil die Erwartungen der anderen Teilnehmer in bezug auf die Alkoholproblema­tik eher in die Richtung gingen, das Thema nicht zu persönlich anzuschneiden. Zwar hatte ich zu Beginn des Gesprächsabschnittes, d. h. nach der Problemdarstellung durch Frau D., die Intervention gemacht, dass jeder von sich sprechen solle, um einen selbstreflexiven und nicht aggressiven Umgang gegenüber den anderen zu ermöglichen, aber aufgrund eigener blinder Flecken (Konfluenz oder Gegenübertragung beim Tabuthema Alkohol, fehlendes Wissen um den Aspekt der Vorbildfunktion des Sozialarbeiters in punkto sozialem Gewissen) konnte ich die Gruppen­dynamik „ich möchte positive Unterstützung“ (Frau D.) versus „wach mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ (die anderen) nicht thematisieren. Insofern sehe ich meine Intervention, in der ich über das Konzept des Betroffenenansatzes spreche, als Erwartungserfüllung an Frau D. und Refraiming einer eher ablehnenden Grundhaltung gegenüber dem Thema Alkohol an.

Diese Sitzung war die dritte Sitzung eines kürzeren Prozesses (6 mal in der Großgruppe und 2 sich an­schließende Sitzungen in Kleingruppenform). Die Tatsache, dass es in Gruppen- und auch Einzelpro­zessen nach einem zustimmenden Beginn immer auch Gegenbewegungen gibt, ist allge­mein bekannt. Nach meinen Erfahrungen, wobei dies sehr viel mit meinen Erwartungen und Einstellun­gen zu tun haben mag, gibt es gerade im dritten Treffen eine oder mehrere sehr bedeut­same Gegenbewegungen. Werden sie von allen Beteiligten gut gehändelt, ist das Arbeitsbündnis wirklich zustande gekommen. Ich gehe davon aus, dass diese Gegenbewegungen, die sich u. a. in den Fragestellungen: wie weit kann ich mich hier einbringen, wie viel Vertrauen entsteht, wie neh­men mich die anderen an und wie kompetent und vertrauensfördernd ist die Supervisorin, äußern können, auch einen gruppendynamischen Faktor bildeten. Aufgrund eigener blinder Flecken habe ich im hier besprochenen Teil der Gruppensupervision (Alkohol-Rollenidentitätsthema) die Aufgabe der Supervisorin dafür zu sorgen, dass Prozesse ausreichend transparent werden, nur teilweise erfüllt. Da aber das im letzten Drittel angesprochene Thema – Freund-Klient versus professioneller Freund- den Beteiligten ermöglichte, eigene Positionen zur Zufriedenheit herauszuarbeiten, schei­nen die Gegenbewegungen in ihrer Gesamtheit ausreichend gut gehändelt worden zu sein.

Als Nachtrag sei noch darauf hingewiesen, dass Frau D. beim nächsten Mal nicht erschien, da sie es „völlig verpeilt“ und verschlafen hatte. In den folgenden Großgruppen- und den beiden anschließen­den Kleingruppensupervisionssitzungen (zusammen mit Herrn F.) arbeitete sie weiter­hin sehr engagiert und produktiv mit. Die anderen Teilnehmer reflektierten in der Endauswertung den gesamten Supervisionsprozess als sehr bereichernd. Als zentrale Ergebnisse nannten sie die Reflexion und Auseinandersetzung in bezug auf ihre Identität als Sozialarbeiter und die persönliche Reflexion des Praktikums.

Methodische Gesichtspunkte in der Auswertung:

Zu meinen eigenen Zielen in dieser Sitzung und meinem methodischem Vorgehen.

Ich hatte für diese Sitzung keine spezifischen Ziele, wenn man meinen Nachtrag an Herrn K. in Bezug auf Verständigung (s. Anfang des Verbatims), nicht dazu rechnet.

Als allgemeinere Ziele für diese Gruppe kann ich folgende formulieren:

  1. Einführen in die Vorgehens- und Arbeitsweise der Supervision
  2. Die jeweils aktuelle Themengestalt herausarbeiten und zu Reflexionsprozessen nutzen
  3. Verlangsamungsprozesse zum Verständnis anstelle von schnellen Handlungslösungen einführen
  4. Selbstreflexionen initiieren
  5. Angemessene Einbindung aller Beteiligten in das Gruppengespräch
  6. Respektvolles Umgehen miteinander

In dieser Sitzung habe ich zu Beginn des Gesprächs über das Alkoholthema die Einzelnen aufgefor­dert, über sich zu sprechen. Als weitere Methoden nutzte ich in der Gesprächsführung u. a. die Methoden des Zusammenfassens, Rückfragen zum Verständnis, des Feedbackgebens. Ich ver­suchte die Gesprächsverläufe zu strukturieren und diese Struktur den Teilnehmern transparent zu machen. Im Allgemeinen nutzte ich die Balint-Methode und das Rollenspiel. In einigen Fällen kombinierte ich die beiden Methoden v. a. dann, wenn ich den Eindruck hatte, dass die Gruppe in ein „Reden-Über“ abglitt.

Dr. phil. Dipl.-Psych. Syliva Siegel (2005)

Dr. phil. Dipl.-Psych. Sylvia Siegel - Gruppensupervision in der Praxis

>> Text als PDF-Version: Dr. phil. Dipl.-Psych. Syliva Siegel (2005): Gruppensupervision in der Praxis